Montag, 13. Oktober 2003
Memo Momo
"Siehst du, Momo", sagte Beppo Straßenkehrer dann zum Beispiel, "es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, das kann man niemals schaffen, denkt man."
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: "Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen."
Er dachte einige Zeit nach, dann sprach er weiter: "Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer nur an den nächsten."
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: "Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein."
Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: "Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste."
Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: "Das ist wichtig."
Michael Ende: Momo

Gutes wird nicht schlecht, wenn man es wiederholt. Sonst gäbe es kein Lieblingsgericht. Für mich bleibt diese Geschichte mehr als nur ein überzeugendes Antistress-Konzept, weshalb ich sie gerne hervorkrame.

Von frisbee um 17:13h| 2 Kommentare |comment
 

Sonntag, 12. Oktober 2003
Eine kleine Geschichte
aus dem Leben eines achtjährigen Mädchens in New York.

„Eines Tages kam das Kind heim und rief außer Atem: ‘Mutter, ein Löwe hat mich verfolgt!’ Die Mutter wurde böse und erklärte, nichts davon zu glauben, sie solle nicht so lügen. Das Mädchen antwortete: ‘Schau mal auf die Straße, da steht er noch vor dem Haus!’ Die Mutter schaute nach draußen und sah einen unschuldigen gelben kleinen Hund. Sie erklärte: ‘Jetzt hast du wieder gelogen. Heute abend wirst du den lieben Gott um Vergebung bitten und ihm versprechen, nie wieder zu lügen!’ Am nächsten Morgen fragte sie das Kind, ob sie alles ihr Aufgetragene getan hätte. ‘Ja’, war die Antwort, ‘ich habe alles gesagt, und der liebe Gott hat mir geantwortet: Mach dir nichts draus, der gelbe Hund hat mich auch schon oft veräppelt!’“

von Alfred Adler

Von frisbee um 17:22h| 1 Kommentar |comment
 

Donnerstag, 9. Oktober 2003
Lernen
Lerneffekt

Erster Tag:
Ich gehe eine Straße entlang, am Gehsteig. Plötzlich tut sich vor mir ein Loch im Boden auf. Ich stürze hinein. Ich bin verloren. Ich weiß, ich muss sterben. Kläglich rufe ich um Hilfe. Dann, nach endlos langer Zeit, kommt mir jemand zu Hilfe, hilft mir heraus aus dem Loch.

Zweiter Tag:
Ich gehe die gleiche Straße entlang, am gleichen Gehsteig. Vor mir tut sich unerwartet wieder das Loch im Boden auf. Ich stürze hinein. Ich habe Angst. Aber ich rapple mich auf, und ich erkenne, dass es eine Möglichkeit gibt, wie ich mich selbst befreien kann. Das ist mühsam, aber es gelingt mir schließlich doch.

Dritter Tag:
Ich gehe die gleiche Straße entlang, am gleichen Gehsteig, und da ist wieder das gleiche Loch. Ich falle wieder hinein - aus reiner Gewohnheit. Ich ärgere mich über mich selbst, klettere auf dem mir nun schon bekannten Weg heraus und gehe weiter.

Vierter Tag:
Ich gehe wieder die gleiche Straße entlang, am gleichen Gehsteig, sehe das Loch vor mir - und wechsle die Straßenseite.

Fünfter Tag:
Ich nehme eine andere Straße.


Nossrat Peseschkian

Von frisbee um 01:15h| 4 Kommentare |comment
 

Der Andere ist anders
Ich will dich vor dem Ertrinken bewahren, sagte der Vogel, hob den Fisch aus dem Wasser und setzte ihn sanft auf einen Baum.

Von frisbee um 00:23h| 1 Kommentar |comment
 

Dienstag, 7. Oktober 2003
Zwei Mönche
Zwei Mönche waren auf der Wanderschaft. Eines Tages kamen sie an einen Fluss.
Dort stand eine junge Frau mit wunderschönen Kleidern. Offenbar wollte sie über den Fluss, doch da das Wasser sehr tief war, konnte sie den Fluss nicht durchqueren, ohne ihre Kleider zu beschädigen.
Ohne zu zögern ging einer der Mönche auf die Frau zu, hob sie auf seine Schultern und watete mit ihr durch das Wasser. Auf der anderen Flussseite setzte er sie trocken ab.
Nachdem der andere Mönch auch durch den Fluss gewatet war, setzten die beiden ihre Wanderung fort.
Nach etwa einer Stunde fing der eine Mönch an, den anderen zu kritisieren: " Du weißt schon, dass das, was Du getan hast, nicht richtig war, nicht wahr? Du weißt, wir dürfen keinen nahen Kontakt mit Frauen haben. Wie konntest Du nur gegen diese Regel verstoßen?"
Der Mönch, der die Frau durch den Fluss getragen hatte, hörte sich die Vorwürfe des anderen ruhig an. Dann antwortete er: "Ich habe die Frau vor einer Stunde am Fluss abgesetzt - warum trägst Du sie immer noch mit Dir herum?"


Viele Interpretationsmöglichkeiten bieten sich hier an. Es geht nicht darum, diese Geschichte auszuloten oder ein "richtiges" Verständnis zu bekommen.

Einmal geht es um Regeln, deren Einhaltung und die Folgen eines Regelverstoßes. Wer macht sich schuldig? Wer ist moralisch im Recht? Darf der Beobachter des Regelverstoßes den anderen beschuldigen oder beschämen?
Wann darf eine Regel gebrochen werden? Die Einhaltung hätte dazu geführt, der jungen Frau nicht zu helfen.
Auch die inneren und äußeren Folgen des Regelverstoßes werden angesprochen. Man kann sich über sich selbst oder andere ärgern, erst still und leise, dann offen vorwurfsvoll und anklagend, wie der eine Mönch reagiert, während der andere frei von Schuld und Scham seinen Weg fortzusetzen scheint.
Zwei Arten von Selbstgerechtigkeit werden benannt und eine Lösung für das beschriebene moralische Dilemma angeboten.

Von frisbee um 12:26h| 1 Kommentar |comment
 

Mittwoch, 1. Oktober 2003
Wieder mal eine neue Rubrik: Geschichten
Mal werde ich eine Geschichte für sich sprechen lassen, mal etwas dazu schreiben. Oft lassen solche Geschichten vielfältige Interpretationen zu, wegen ihrer Bedeutungsfülle reizen sie mich immer wieder. Und ein Körnchen Weisheit ist allemal enthalten.

Die Bekehrung des Knaben

Rabbi Aaron kam einst in die Stadt, in der der kleine Mordechai, der nachmalige Rabbi von Lechowitz, aufwuchs. Dessen Vater brachte ihm den Knaben und klagte, dass der im Lernen keine Ausdauer habe. "Lasst ihn mir eine Weile hier", sagte Rabbi Ahron. Als er mit dem kleinen Mordechai allein war, legte er sich hin und bette das Kind an sein Herz. Schweigend hielt er es am Herzen, bis der Vater kam. "Ich habe ihm ins Gewissen geredet", sagte er, "hinfort wird es ihm an Ausdauer nicht fehlen."
Wenn der Rabbi von Lechowitz diese Begebenheit erzählte, fügte er hinzu: "Damals habe ich gelernt, wie man Menschen bekehrt."

(aus: Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim.)

Eine Art Pädagogik des Herzens, fast wortwörtlich, wird hier beschrieben. Jemand wird bekehrt, nicht belehrt. Die wortlose Geste, die nicht nur Halt und Geborgenheit gibt, wirkt ein Leben lang nach.

Von frisbee um 01:14h| 4 Kommentare |comment