Zeitgeist
Unter dieser Rubrik möchte ich auf Gedankengänge aufmerksam machen, die mir einen Denkanstoß gaben. Etwas Vorgedachtes vorstellen, was zum Nach-Denken anregen mag, ohne aufklärerischen, erst recht nicht missionarischen Anspruch. Eher im Sinne einer Einladung und eines Angebots, dem man folgen kann oder auch nicht. Belehren ist ja auch immer Beschämen.

Echte Einsamkeit

Der wichtigste Maßstab scheint heute die Echtheit zu sein. Eine Meinung oder eine Handlung gilt nur dann noch als gut und richtig, wenn sie echt ist, wenn sie authentisch ist. Alles, was ich denke, sage oder mache, muss existentiell und echt sein. Aber was ist das für eine armselige Überheblichkeit, mit der der einzelne in seiner jeweiligen Lage und Laune zum alleinigen Maßstab wird. Was ist das für eine grandiose Selbstüberschätzung, wenn ich es gar nicht mehr für nötig halte, mich an anderen zu orientieren. Und ist es nicht zugleich eine erbärmliche Selbstbeschränkung, wenn ich es gar nicht mehr für möglich halte, mich an anderen zu orientieren? Aber Hauptsache, ich bin echt und authentisch. Das muss genügen. Oder versteckt sich hinter dieser immer und überall so wichtig genommenen Echtheit etwa eine große Einsamkeit, in der wir nur noch uns selbst haben – und sonst nichts.

nach Fulbert Steffensky


- Die Legitimation durch schonungslose Offenheit kommt mir dabei in den Sinn. Man kann dem Gegenüber den härtesten Tobak "vor den Latz knallen" und fühlt sich moralisch durch die zur Schau getragene Ehrlichkeit voll im Recht.
- Mangelnde Rücksichtnahme, fehlende Empathie sind durch diese Form der Authentizität mehr als gedeckt.
- Selbstverwirklichung auf Kosten anderer macht einsam.
- Selbstüberhebliches Handeln, im Vollbewußtsein der eigenen Grandiosität, und schon hat man sich aus der Masse emporgehoben.

Es gäbe sicherlich noch mehr zu sagen und zu schreiben. Der geneigte Leser soll jedoch nicht zum Wanderer durch Bleiwüsten werden. Auf dem Monitor Blei? Nicht wirklich. ;-)
Montag, 29. September 2003, 21:21, von frisbee | |comment

 
Echtheit wird tatsächlich immer wichtiger. Leider wird es dadurch auch immer aufwendiger, einen Schein aufrecht zu erhalten. Bestimmtes bis unverschämtes Auftreten sollen die anderen entmutigen, die vermeintliche Echtheit zu überprüfen.

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Nur wann bin ich denn "echt"? Echt jetzt - ernstgemeinte
Frage. Mit welchen Kriterien erfasse ich denn Echtheit oder Authentizität?

Die Abgrenzung zum Falschspiel, der Intrige und Heimtücke finde ich allerdings genauso wichtig wie du, wuerg.

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Leider gibt es wohl kein Kriterium für Echtheit, da ein guter Selbstdarsteller seine Rolle so sehr verinnerlicht, daß sie in gewisser Weise echt ist. Aber man leidet aber auch nicht an fehlenden Kriterien, wenn man insbesondere die in der Öffentlichkeit auftretenden Menschen nach ihrer Rolle beurteilt und nie etwas aus ihrem Privatleben zur Kenntnis nimmt. So wie man es früher mangels Information oder aus Respekt gehalten hat.

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Ich habe Probleme zu verstehen, was du mit den folgenden Sätzen sagen willst, wuerg:
"Aber man leidet aber auch nicht an fehlenden Kriterien, wenn man insbesondere die in der Öffentlichkeit auftretenden Menschen nach ihrer Rolle beurteilt und nie etwas aus ihrem Privatleben zur Kenntnis nimmt. So wie man es früher mangels Information oder aus Respekt gehalten hat."

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Susanne, von engeren Bekannten abgesehen hat man früher keinen Einblick in die persönlichen Verhältnisse nehmen können (keine Information) oder wollen (Respekt). Allenfalls erschienen Biografien mit persönlichen Notizen nach dem Tode. Heute überprüft nicht nur die Bildzeitung die Übereinstimmung des privaten und öffentlichen Lebens der Prominenten, auch wir wollen die sog. Echtheit unserer Bekannten und Kollegen überprüfen. Dazu brauchen wir Kriterien, Einschätzungsvermögen oder ein Gefühl für Menschen und stehen dumm da, wenn wir dies alles nicht haben. Meine Lösung: Das macht nichts, wenn wir gar nicht die Echtheit unserer Mitmenschen überprüfen wollen und sie so nehmen wie sie uns erscheinen. Das ist zum Beispiel hier der Fall: Obwohl die Blogger-Persönlichkeit vom schreibenden Menschen erheblich abweichen kann, hat man kein ein Echtheitsproblem, da man ihn zumeist nie kennenlernen wird.

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Ja, da magst du Recht haben...
andererseits besteht eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem "alles von der Norm Abweichende" über andere wissen zu wollen und dem Mangel an echtem Interesse an seiner Person.
Hinzu kommt die weit verbreitete Neigung, alles abzuwerten und niederzumachen als "unecht", nicht authentisch zu bezeichnen, was sich anders äußert als man selbst.

Deine Lösung, wuerg, die Menschen einfach so zu nehmen, wie sie uns erscheinen, erscheint vernünftig und praktikabel. Durch eine argwöhnische Haltung nämlich werden in der Regel überflüssige negativ besetzte Spannungen aufgebaut, die viel an sinnvoller einzusetzender Kraft absorbieren.

Und was ist eigentlich wirklich e c h t ?!

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Es gibt stets drei Wahrheiten
und die »schonungslose Offenheit« hat als kleinere Schwester immer die geschmeidige Lüge dabei.

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Danke für die Diskussion an alle Beteiligten
Für mich schwingt das Wort "Vertrauen" mit. Susanne hat es auch verdeutlicht. Ohne Vertrauen, mit Misstrauen wird Echtheit oder authentisches Verhalten kaum Chancen haben.

Jemand so zu nehmen, wie er mir erscheint (wuerg), ist somit auch ein Vertrauensvorschuß, der sich lohnt oder enttäusch werden kann.

Und Paul verweist zu Recht auf die andere, dunkle Seite, auch wenn sie durch den Zusatz, geschmeidig zu sein, das Schlangenhafte nur halb verbirgt. ;-)

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Sozusagen als Nachtrag noch ein paar besinnliche Gedanken
von Petrus Celeen:

Ich brauche jemanden nur zu sehen-
Und schon weiß ich über ihn Bescheid.
Ich brauche mit jemanden nur ein paar Worte zu wechseln-
Und schon weiß ich, mit wem ich es zu tun habe.
Ich brauche über jemanden nur dieses oder jenes zu hören-
Und schon weiß ich, was für ein Mensch er ist.

Mein Gott,
es ist erschreckend,
wie schnell ich jemanden zu kennen glaube-
und wie lange es dauert,
bis ich mein voreiliges Urteil ändere.

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